Körperverhaltenstherapie

Definition

Körperverhaltenstherapie ist der Oberbegriff für den methodischen Ansatz, körperliches Verhalten und die zugrundliegenden Gesetzmäßigkeiten therapeutisch zu nutzen.

Körperverhaltenstherapie ist eine Einladung
- zu einem interdisziplinären Dialog zwischen Körper- und Psychotherapeuten, somatischen und psychologischen Disziplinen der Medizin, Heilkunde und Gesundheitserziehung
- ist eine notwendige neue Perspektive
- und Bündelung von Fragestellungen für eine verhaltensbezogene Körperarbeit und eine körperbezogene Verhaltensmodifikation
- ist eine wissenschaftlich begründbare rationale Grundlage
- für „ganzheitliche“ Prävention, Therapie und Rehabilitation

GRUNDANNAHMEN

Die Grundannahmen des Diskussionskorridors „Körperverhaltenstherapie“ erscheinen einfach und plausibel:
1. Menschen verhalten sich in ihren Körpern. Körper sind das einzige Instrument menschlicher Wahrnehmung und menschlicher Äußerung. 
2. Menschliche Körper zeigen ein charakteristisches, eng mit der psychophysischen Einheit des Menschen verbundenes Verhalten. So lieben menschliche Körper beispielsweise eher „leicht“ als „schwer“, sie benötigen Pausen zur Regeneration, sind reagierbereit, solange sie darin nicht gestört werden, und lernen am effektivsten unter benennbaren günstigen Bedingungen.  
3. Dass wir uns in unseren Körpern verhalten und unsere Körper sich verhalten, kann therapeutisch sowohl in somatischer wie psychologischer Therapie gezielt und rational begründbar genutzt werden.

Es liegt nahe, den Nutzen dieses Ansatzes vor allem in der Beseitigung körperlicher Probleme bei Patienten mit funktionellen, somatoformen und Schmerz-Störungen zu sehen. Körperverhalten stellt aber aufgrund der sensomotorischen Erfahrungsstruktur nicht eine „somatische“, sondern immer eine psycho-somatische („ganzheitliche“) Dimension des Menschen dar. Deshalb gehen Interventionen, die Körperverhalten berücksichtigen, weit über die somatischen Aspekte hinaus. Sobald nämlich die Funktionsmöglichkeiten des Organismus nicht mehr behindert werden, werden selbstregulatorische, ordnende Kräfte und Entwicklungen freigesetzt. Diese zeigen Wirkungen auf Emotionen und kognitive Fähigkeiten und sind für das gesamte Spektrum psychosomatischer Patienten relevant.

WIRKPRINZIPIEN

Körperverhalten bedeutet letztlich immer Zustandsveränderung, angefangen von den Zustandsveränderungen der Sinnesrezeptoren bis hin zu körperlicher Wachheit, Gespanntheit und körperlichem Ausdruck.

Körperverhaltenstherapeutische Strategien und Techniken bedienen sich unterschiedlicher Körperverfahren und ihrer Einzeltechniken auf eine eklektische Weise. Diese Strategien lassen sich den von Grawe formulierten „allgemeinen therapeutischen Wirkprinzipien“ zuordnen: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung und prozessuale Aktivierung, Problembewältigung, Klärungsperspektive (Grawe 1998, Grawe 2000; dazu ausführlich: Klinkenberg, N: Techniken der Körperverhaltenstherapie. In: W. Senf, M. Broda & B. Wilms (Hrsg.): Techniken der Psychotherapie. Stuttgart: Thieme 2013).

STRATEGIEN UND TECHNIKEN

Auch wenn therapeutische Interventionen als „Techniken“ aufgefasst werden können, liegt es aufgrund der Komplexität und Individualität des dadurch angesprochenen Organismus näher, körperverhaltenstherapeutische Vorgehensweisen als „Strategien“ zu begreifen. 

Zu den elementaren Strategien einer Körperverhaltenstherapie gehören:

  • Probieren und Überprüfen in Arbeitsgemeinschaft

  • Begrenzung der Fragestellung

  • Kontaktnahme

  • Förderung von (Bewegungs-)Lernen

  • Klärung zweckmäßigeren Verhaltens

Andere strategische Wege fördern einen geeigneten Umgang mit Fehlern und Lernfreude, wollen Wahrnehmungsfähigkeiten verbessern, lassen die Reaktionsfähigkeit des Körpers entdecken, tragen zur Entwicklung von Regeneration und hedonistisch gefärbter Lebensfreude bei, arbeiten konkret an der Wiederentdeckung der Tragfähigkeit es Skeletts und der Umstellfunktion der Muskulatur oder erarbeiten „Orientierung am Näherliegenden“ (i.e. unmittelbare körperliche Erfahrung) als Möglichkeit zur kognitiven und emotionalen Steuerung in kritischen Situationen.  

Als Techniken im engeren Sinn lassen sich u.a. benennen:

  • Bodyscan

  • Pausen und Pacing

  • Steuerung der kinästhetischen Information

  • Variieren von Bewegungen

  • Vorstellung von Bewegung

  • Kontextveränderung

  • Nutzung selektiver Aufmerksamkeit

  • Beeinflussung des Gesamtbewegungsmusters

(Dazu ausführlich: Klinkenberg, N: Techniken der Körperverhaltenstherapie. In: W. Senf, M. Broda & B. Wilms (Hrsg.): Techniken der Psychotherapie. Stuttgart: Thieme 2013).

ZIELE, INDIKATIONEN, VORAUSSETZUNGEN

Mit Blick auf die häufigen Störungen des Körperverhaltens bei psychosomatischen Patienten öffnet sich ein breites Spektrum von körperverhaltenstherapeutischen Indikationen und Zielsetzungen. Diese Ziele können konkret (z.B. Verbesserung einer sonst schmerzhaften Bewegung) oder allgemein (z.B. Verbesserung des Erlebens und des Selbstwerts), eher somatischer oder eher psychischer, bewusster oder auch unbewusster Natur sein. Körperverhaltenstherapie eignet sich als flankierende Maßnahme zu Psychotherapie, als Modul multidisziplinärer stationärer Behandlung oder zur Präventions- und Entwicklungsarbeit am eigenen Verhalten. 

Körperverhaltenstherapeutische Interventionen ergänzen andere Therapiemethoden. Sie fördern therapeutische Lernprozesse und erleichtern haptisch greifbare Erfahrungen und die bewusste Wahrnehmung körperlicher Empfindungen.

Anwendende Therapeuten sollten sich wenigstens in zwei Körperverfahren auskennen und über eigene intensive Erfahrungen mit diesen für sich selbst verfügen. Das über Spiegelneurone vermittelte Einfühlungsvermögen in den Klienten ist sein wichtigstes diagnostisches Instrument. Nur die eigene, vielfach überprüfte und allmählich wachsende Erfahrung kann eine sichere Basis für diese Art therapeutischer Arbeit sein. Der Königsweg ist bei allen Körperverfahren immer die Selbsterfahrung.

LEITLINIEN

Die Entwicklung von Leitlinien dient einer nützlichen, effektiven und zeitgemäßen Behandlung von Patienten. Sie sind herzlich eingeladen, ihre Erfahrungen und Ihren Sachverstand im intra- und interdisziplinären Prozess zur wissenschaftlichen Absicherung und Formulierung von Leitlinien der Körperverhaltenstherapie einzubringen.

Folgende „Leitlinien“ verstehen sich derzeit als aktuelle Basis der Diskussion:

  1. Körperverhaltenstherapie ist ein verhaltenstherapeutischer Ansatz. Er impliziert den Blick auf das Verhalten und berücksichtigt Gesetzmäßigkeiten menschlicher Wahrnehmung, des Lernens und Verhaltens (Ressourcenorientierung). Das Menschenbild ist humanistisch geprägt und geht von einem Recht aller Menschen auf positive innere und sozialkommunikative Selbstbestimmung und Selbstrealisierung aus.

  2. Der Ansatz nutzt wesentliche menschliche Ressourcen: insbesondere die sensomotorischen Fähigkeiten sowie die enorme Lernfähigkeit des Menschen im Zusammenhang mit Bewegung.

  3. KVT zielt immer auf Verhalten insgesamt, nicht nur auf einen Teilaspekt, etwa die Verbesserung einer bestimmten Bewegung allein. Dabei geht es zumeist um eine schrittweise Reintegration von dissoziierter Wahrnehmung und Körperverhalten. Sie ist zugleich daran interessiert, die Behinderung einer körperlichen Funktion, soweit es die Funktionsmöglichkeiten zulassen, zu beseitigen.

  4. KVT nutzt Anregungen aus Körper- und Selbsterziehungskonzepten mit teilweise weitaus grundsätzlicherer Zielsetzung als Modelle (z.B. Jacoby/Gindler-Arbeit, Feldenkrais-Methode), insofern sie Grundsätzen des Menschenbildes und wissenschaftlicher Überprüfbarkeit genügen.

  5. Achtsam zu werden ist in körperverhaltenstherapeutischer Sicht nicht eine Übung, die zu einem bestimmten Zweck (z.B. Entspannung) eingesetzt wird, sondern eine grundlegende, essentielle Funktionsmöglichkeit jedes Menschen. Neben Achtsamkeit zählen auch beispielsweise die Fähigkeiten des Menschen zu Kontakt und Beziehung, zu unterscheiden und zu vergleichen zu grundlegenden Verhaltensmöglichkeiten, die jedem gesunden Menschen lebenslang zur Verfügung stehen. Achtsamkeit hilft zur Integration menschlicher Empfindungen, Äußerungen und Verhaltensmöglichkeiten. Kognitive Umstrukturierung oder die Verarbeitung emotionaler Empfindungen können vom Einbezug achtsamen Verhaltens in die Therapie profitieren.

  6. Insofern KVT allgemeine Gesetze körperlichen Lernens und menschlicher Ressourcen berücksichtigt, kann es sich keineswegs um einen auf Verhaltenstherapie beschränkten Ansatz handeln.

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